
Verwandlung des Glasscherbenviertels
Für viele Münchner ist Obergiesing noch das Glasscherbenviertel. In dem ehemaligen Dorf über der Isar lebten zuerst viele Tagelöhner, im 20. Jahrhundert Arbeiter, Handwerker und Kleingewerbetreibende. Angestellte, höhere Beamte oder gar die Oberschicht traf man hier kaum an. Immerhin war Giesing lange zum Wohnen das günstigste Stadtviertel. Wie vieles, so ändert sich aber auch dies.
Zentrum des dörflichen Giesings war die Heilig-Kreuz-Kirche oberhalb der Giesinger Steige. Als Giesing 1854 in München eingemeindet wurde, erlebte die Gegend danach eine Bevölkerungsexplosion. Besonders der Bereich der Tegernseer Landstraße zwischen Ostfriedhof und Wirtsstraße wuchs schnell an.
Am 31. Oktober 1886 erhielt Giesing mit der neuen – durch Lotto-Einnahmen finanzierte – Heilig-Kreuz-Kirche ein neues Wahrzeichen. Architekt war Georg Dollmann, Schwiegersohn des Erbauer des klassischen Münchens, Leo von Klenze. Bis zum Bau des Olympiaturms war die Kirchenspitze der höchste Punkt Münchens.
Wenig davon entfernt entstand 1929 an der Kreuzung zwischen Tegernseer Landstraße, Ichostraße und Silberhornstraße ein für damalige Verhältnisse das revolutionär-moderne Postamt. Während konservative Kreise das von Robert Vorhoelzer und Walther Schmidt erbaute Gebäude als „Postkiste“ schmähten, war es bald unter den Anwohner wegen der davor befindlichen Vorbau des populären Cafés Tela als „Tela-Post“ bekannt.
Zu dieser Zeit war der Stadtteil eine Hochburg der Arbeiter und als „rotes Giesing“ verschrien. Als nach dem Zweiten Weltkrieg Arbeiterräte die Herrschaft über Bayern übernahmen, folgte bald der weiße Terror durch rechte Freikorps. Besonders schlimm verfuhren diese mit standesrechtlichen Erschießungen in Giesing.
Giesing galt als Arbeiterviertel auch lang als Glasscherbenviertel. Hier befindet sich das Kultstadion der 1860er, das Stadion an der Grünwalderstraße. Nicht weit entfernt wuchs Franz Beckenbauer auf. Aber auch lang war es zum Wohnen der billigste Stadtteil Münchens. Längst steigen auch dort Preise und Mieten.
Am auffälligsten ist die Entwicklung dort, wo Neubauten entstehen. Das weitaus größte Projekt – dass des Parkviertel Giesing – befindet sich auf dem ehemaligen Agfa-Grundstück an der Tegernsee Landstraße. Als das Unternehmen den Standort aufgab, erwarb die Büschl-Gruppe das Areal und errichtet entlang der Tegernseer Landstraße den markanten Gewerberiegel „Giesinger“. Die Fassade ist mit einer auffalligen Wabenstruktur der Hild und K Architekten verziert. Das Gebäude ist bereits größtenteils vermietet (Motel One, Agfa).
Der weitaus größte Neubaubereich befindet sich weiter nordöstlich. Hinter dem "Giesinger“ liegt das Wohnquartier „Parkviertel Giesing“. Nachdem der Münchener Stadtrat Ende März 2011 den Satzungsbeschluss für den entsprechenden Bebauungsplan gefasst hat, sollen nun hier in den kommenden Jahren 1200 Miet- und Eigentumswohnungen für über 2000 Bewohner entstanden. Darüber wurden auf dem 11,5 Hektar großen Gelände Nahversorgungseinrichtungen und Kitas errichtet.
Ein großer Abschnitt erschloss die Demos Wohnbau. Im Bau befindet sich die „Neue Gärten Giesing“ an der Weißenseestraße. Die 154 von der Demos in diesem Abschnitt errichteten Wohnungen sind längst verkauft. Das Angebot reichte damals (2012) vom Ein-Zimmer-Apartment (37 Quadratmeter Wohnfläche) für 205.900 Euro bis zur Dachgartenwohnung (137 Quadratmeter) mit Wintergarten und Erker für 853.900 Euro. Pro Quadratmeter lagen die Preise zwischen knapp 5000 Euro und über 6200 Euro – auch für Neubauwohnungen für Giesinger Verhältnisse nicht gerade billig, nach heutigem Maßstab wäre dies aber fast ein Schnäppchen.
Der Bauabschnitt ist nicht der einzige, den die Demos auf dem ehemaligen Agfa-Areal erschließt. „Wir haben ein weiteres Areal auf dem Gelände bereits erworben und überplanen dies gerade.“, so Grabinger. „Die Größenordnung entspricht dem ersten Bauabschnitt.“
Neben dem Gelände von Demos baute zudem Bauwens seine Anlage "meinraum individuell“ und "meinraum domizil mit 147 Wohneinheiten mit der Größe von etwa 42 bis 167 Quadratmeter Wohnfläche. Die ersten Wohnungen sollen Ende 2012 übergeben werden, die Gesamtfertigstellung erfolgte Mitte 2013.
Nördlich dieser Wohnanlagen soll zudem auf dem Gelände ein Park entstehen, der etwa bis zur Perlacher Straße reicht. Dort grenzt eine, in den 1920er Jahren von Carl Jäger errichtete Wohnanlage (Bild oben links, beim Walchenseeplatz) der GEWOFAG an, die bereits damals Modellscharakter hatte und heute mit ihrer Architektur und Restaurants wie der "Schinkenpeter“ (Bild links) noch die Atmosphäre des Arbeiterviertels verbeiten. Und östlich von dem neuen Stadtquartier grenzt ein bestehender Freizeitpark an.
Bauträger entdecken Giesing
Das „Parkviertel Giesing“ ist zwar das größte, aber nicht einzige Neubauprojekt im Viertel. Wo Grundstücke frei werden, entstehen neue Wohnanlagen. Nicht ganz so groß ist das „Selectio“ der JK Wohnbau in der Hohenwaldeckstraße, am anderen Ende Obergiesings. Die Wohnungen sind fast alle verkauft, im Internet bietet der Bauträger aber noch eine knapp 162 Quadratmeter große Vier-Zimmer-Wohnung im siebten Obergeschoss für stolze 965.000 Euro an.
Ebenfalls weit fortgeschritten ist ein Neubaukomplex der Demos zwischen dem Ostfriedhof und Vorhoelzers markantem Kirchenbau "Königin des Friedens" (Bild rechts) erbaut. Der längliche Gebäudeblock liegt in der Severinstraße gegenüber dem Altenheim St. Martin (Bild links). „Die Fertigstellung ist für Sommer diesen Jahres geplant“, informiert Christian Grabinger von der Demos Wohnbau GmbH. Von den 52 Neubauwohnungen werden nur noch drei zum Verkauf angeboten. Die Preise für die etwa 75 Quadratmeter großen Wohnungen liegen zwischen etwa 370.000 und 424.000 Euro.
Die Conceptbau will im Frühjahr 2012 im Süden des Viertels mit dem Bau von „Wohnen in Obergiesing“ (Bild links, Animation/Rendering) starten. „Die Fertigstellung ist für Ende 2013 geplant, verkauft sind bereits etwa 50 Prozent der 40 Wohnungen“, informiert Emmanuel Thomas, Geschäftsführer von Conceptbau. Die Preisspanne ist mit etwa 3300 bis 5050 Euro pro Quadratmeter etwas ausdifferenzierter und niedriger als bei den anderen Neubauprojekte. Allerdings befindet sich das Grundstück an der relativ stark befahrenen Schwanseestraße, Ecke Ständlerstraße. Giesing ist eben noch kein reines Villenviertel.
Das Viertel in Zahlen
Obergiesing ist der nördliche Bezirksteil des Stadtbezirks Obergiesing-Fasanengarten. Er grenzt, von der Chiemgauerstraße getrennt, an den südlichen Bezirksteil Südgiesing. Früher umfasste Giesing zudem Untergiesing, das heute in einem getrennten Bezirk in Untergiesing-Harlaching liegt.
Einwohner: Wie in anderen ehemaligen Arbeiter- und Handwerkervierteln hat sich auch in Obergiesing die Sozialstruktur mittlerweile ausgeglichen. Im Viertel wohnen überdurchschnittlich viele Singles. Auch ein hoher Ausländeranteil kennzeichnet Obergiesing. Das Durchschnittsalter der Bewohner liegt etwas über dem Schnitt der Stadt.
Infrastruktur: Gute ÖPNV-Anbindung (U2-, U5: Silberhornstraße, Untersbergstraße, Giesing Bahnhof; U1: Candidplatz und St. Quirin-Platz; Tram entlang Tegernseer Landstraße), mehrere Grund- Hauptschulen und Gymnasium. Tegernseer Landstraße ist wichtigste Einkaufstraße. Freizeitpark an Untersbergstraße. Ein weiteres Zentrum findet sich im Osten des Viertels rund um den Giesinger Bahnhofsplatz (Bild links oben). Hier entstand in den vergangenen Jahren ein Ärztezentrum. Auch bietet der Giesinger Bahnhof einen S-Bahn-Anschluß.
Im Norden des Viertels liegt der Ostfriedhof, einer von Münchens großen und berühmteren Friedhöfe. Die Aussegnungshalle und Eingang im Süden der Anlage am St. Martins-Platz wurde von Hans Grässel mit einer Kuppel und einer Säulenhalle im antik-römischen Stil errichtet (Bild links). Nach Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg wurde das Innere der Kuppelanlage von Hans Döllgast in einem eigenen Stil wieder hergestellt. Gegenüber des Platzes befindet sich ein weiterer imposanter Bau: Das von Carl Hoheneder gestaltete Armenspital, das heutige Altenheim St. Martin.
Immobilien: Preise und Mieten sind in vergangenen zwei Jahren stark gestiegen, aber für Münchner Verhältnisse im Bestand günstig. Der größte Teil der Bestandswohnungen – etwa drei Viertel des gesamten Wohnungsbestandes in Obergiesing – wurde nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet. Zum Teil sind aber Wohnungen stark sanierungsbedürftig und entsprechen vor allem häufig nicht mehr dem heutigen energetischen Standard. Entsprechend groß sind Abschläge beim Kaufpreis und bei der Miete.
Nach dem Mietspiegel für München 2011 des Landeshauptstadt München ist der gesamte Wohnungsbestand relativ undifferenziert als "durchschnittliche Wohnlagequalität " eingestuft. Innerhalb des Viertels gibt es allerdings je nach Grünflächen und Beschallung große Unterschiede. So gehört der Bereich des Mittleren Rings entlang der Tegernseer Landstraße und der Chiemgaustraße, aber auch die Wohnbereich entlang der Werinherstraße oder der Schlierseestraße und Schwanseestraße zu den stark befahrenen und damit sehr lauten Wohngegenden.
Zu den großen Neubauquartieren gehört vor allem das Erschließungsgebiet auf dem ehemaligen Agfa-Areal (siehe Text oben). Dort sollen in den kommenden Jahren 1200 Wohnungen für rund 2000 Bewohner entstehen. Darüber hinaus sind auf dem 11,5 Hektar großen Gelände Nahversorgungseinrichtungen und Kitas geplant.
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